Sonntag, 27. Januar 2008

Zwei Welten

Zwei Welten. Djemaa el-Fna, Marrakesch, Marokko
Aysha ist 50, also in meinem Alter. Sie hat vier Kinder und neun Enkel, mit 37 wurde sie das erste Mal Großmutter. Das erzählt sie mir, während wir, zusammen mit ein paar hundert anderen, in Nuweiba auf das Schnellboot warten, das Ägypten mit Jordanien verbindet. Eine gemeinsame Sprache haben wir nicht, aber wir haben viel Zeit. Ich weiß nicht, wann das nächste Boot geht und ob ich überhaupt an der richtigen Tür warte, aber die Einheimischen scheinen auch nicht mehr als ich zu wissen. Wir vergleichen unsere Tickets. Sie sehen gleich aus. Aysha nimmt mich unter ihre Fittiche. Nach einer Weile zeigt sie mir Fotos ihrer Familie und fragt mich nach meiner. Ich deute auf einen nicht vorhandenen Ring an meiner Hand, gestikuliere in Waden-, Knie- Hüfthöhe und schüttle den Kopf. Sie versteht: Nicht verheiratet und keine Kinder. Sie schaut mich ernst und fragend an, ich lächle tapfer zurück. Ich wünschte, ich hätte Worte, um ihr zu erklären, dass ich das nicht als Nachteil betrachte. Schließlich habe ich einen Beruf und Freunde und Freiheiten, die mir z. B. erlauben zu reisen und so weiter und so fort. Hier, im arabischen Kulturkreis, habe ich öfter das Bedürfnis, mich zu erklären. Zu Hause in Berlin hingegen taugt ein Lebensstil wie meiner schon lange nicht mehr als Konversationsthema. Frauen wie ich sind selbständig und unabhängig, das ist so selbstverständlich, dass man nicht darüber spricht. Da wir mit dem Familienthema nicht weiter kommen, zähle ich Aysha die Länder auf, die ich auf dieser Reise besucht habe und noch besuchen werde: Marokko, Ägypten, Jordanien, Syrien, Türkei. Sie nickt. Ich erfahre, dass sie aus Ägypten stammt und in Amman lebt. Endlich geht es weiter, die Passagiere dürfen auf das Schiff. Ich folge im Schlepptau. Sie entdeckt ein paar LKW entfernt ihren Sohn, sie ruft ihn per Handy. Haare, die länger keinen Friseur gesehen haben, kurzer Vollbart, dunkelbraune Gesichtsfarbe, lebenslustige Augen. Er ist 34, sieht aber älter aus. Man könnte ihn für Ayshas Ehemann halten. Er und seine Kollegen sitzen seit drei Tagen in Nuweiba fest. Es ging keine Fähre, sie wissen nicht, wann sie wegkommen. Nun geht es aber auch für sie weiter. Die Fahrer verladen ihre LKW auf die langsame Fähre. Sie selbst fahren auch mit dem Schnellboot. Merkwürdig. LKW-Fahrer lassen ihre Fahrzeuge normalerweise nur ungern alleine. Ich verstehe, dass es in den letzten Monaten wieder Grenzzwischenfälle zwischen Israel und Ägypten gegeben hat. Genaueres erfahre ich nicht. Das Schnellboot ist wegen der zusätzlichen Passagiere nun brechend voll. Ayshas Sohn stellt sich als Übersetzer zur Verfügung und die Unterhaltung läuft jetzt etwas runder. Ich bekomme Tee, Fladenbrot und Käse angeboten. Als Aysha von ihrer Familie und ich von meinem Beruf und den Reisen erzähle, spüre ich ihr Bedauern. Sie wurde nicht gefragt, welches Leben sie führen möchte. Vielleicht hätte sie sich für genau das Leben entschieden, das sie nun führt. Sie scheint damit nicht unglücklich zu sein. Aber sie hatte keine Wahl. Auch ich fühle Bedauern. Diese warmherzige Frau führt mir vor Augen, wie es ist, sehr enge Bindungen zu haben, etwas, was vielen in meiner Welt – auch mir selbst – in dieser Intensität nicht mehr möglich ist. Wir tauschen unsere Adressen. Ich werde nach Amman eingeladen. Ja, ich soll unbedingt kommen. Mutter und Sohn wechseln die SIM-Karten ihrer Handys; wir nähern uns Jordanien. Die anderen Touristen stehen plötzlich auf und steuern den Ausgang an. Besser, ich gehe mit ihnen. Die Verabschiedung von Aysha ist herzlich, wie zwischen alten Freunden. Dies war mehr als nur eine flüchtige Begegnung. Die Wege zweier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, haben sich gekreuzt. Zwei Welten. Kein Problem.

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