Sonntag, 27. Januar 2008

Zwei Welten

Zwei Welten. Djemaa el-Fna, Marrakesch, Marokko
Aysha ist 50, also in meinem Alter. Sie hat vier Kinder und neun Enkel, mit 37 wurde sie das erste Mal Großmutter. Das erzählt sie mir, während wir, zusammen mit ein paar hundert anderen, in Nuweiba auf das Schnellboot warten, das Ägypten mit Jordanien verbindet. Eine gemeinsame Sprache haben wir nicht, aber wir haben viel Zeit. Ich weiß nicht, wann das nächste Boot geht und ob ich überhaupt an der richtigen Tür warte, aber die Einheimischen scheinen auch nicht mehr als ich zu wissen. Wir vergleichen unsere Tickets. Sie sehen gleich aus. Aysha nimmt mich unter ihre Fittiche. Nach einer Weile zeigt sie mir Fotos ihrer Familie und fragt mich nach meiner. Ich deute auf einen nicht vorhandenen Ring an meiner Hand, gestikuliere in Waden-, Knie- Hüfthöhe und schüttle den Kopf. Sie versteht: Nicht verheiratet und keine Kinder. Sie schaut mich ernst und fragend an, ich lächle tapfer zurück. Ich wünschte, ich hätte Worte, um ihr zu erklären, dass ich das nicht als Nachteil betrachte. Schließlich habe ich einen Beruf und Freunde und Freiheiten, die mir z. B. erlauben zu reisen und so weiter und so fort. Hier, im arabischen Kulturkreis, habe ich öfter das Bedürfnis, mich zu erklären. Zu Hause in Berlin hingegen taugt ein Lebensstil wie meiner schon lange nicht mehr als Konversationsthema. Frauen wie ich sind selbständig und unabhängig, das ist so selbstverständlich, dass man nicht darüber spricht. Da wir mit dem Familienthema nicht weiter kommen, zähle ich Aysha die Länder auf, die ich auf dieser Reise besucht habe und noch besuchen werde: Marokko, Ägypten, Jordanien, Syrien, Türkei. Sie nickt. Ich erfahre, dass sie aus Ägypten stammt und in Amman lebt. Endlich geht es weiter, die Passagiere dürfen auf das Schiff. Ich folge im Schlepptau. Sie entdeckt ein paar LKW entfernt ihren Sohn, sie ruft ihn per Handy. Haare, die länger keinen Friseur gesehen haben, kurzer Vollbart, dunkelbraune Gesichtsfarbe, lebenslustige Augen. Er ist 34, sieht aber älter aus. Man könnte ihn für Ayshas Ehemann halten. Er und seine Kollegen sitzen seit drei Tagen in Nuweiba fest. Es ging keine Fähre, sie wissen nicht, wann sie wegkommen. Nun geht es aber auch für sie weiter. Die Fahrer verladen ihre LKW auf die langsame Fähre. Sie selbst fahren auch mit dem Schnellboot. Merkwürdig. LKW-Fahrer lassen ihre Fahrzeuge normalerweise nur ungern alleine. Ich verstehe, dass es in den letzten Monaten wieder Grenzzwischenfälle zwischen Israel und Ägypten gegeben hat. Genaueres erfahre ich nicht. Das Schnellboot ist wegen der zusätzlichen Passagiere nun brechend voll. Ayshas Sohn stellt sich als Übersetzer zur Verfügung und die Unterhaltung läuft jetzt etwas runder. Ich bekomme Tee, Fladenbrot und Käse angeboten. Als Aysha von ihrer Familie und ich von meinem Beruf und den Reisen erzähle, spüre ich ihr Bedauern. Sie wurde nicht gefragt, welches Leben sie führen möchte. Vielleicht hätte sie sich für genau das Leben entschieden, das sie nun führt. Sie scheint damit nicht unglücklich zu sein. Aber sie hatte keine Wahl. Auch ich fühle Bedauern. Diese warmherzige Frau führt mir vor Augen, wie es ist, sehr enge Bindungen zu haben, etwas, was vielen in meiner Welt – auch mir selbst – in dieser Intensität nicht mehr möglich ist. Wir tauschen unsere Adressen. Ich werde nach Amman eingeladen. Ja, ich soll unbedingt kommen. Mutter und Sohn wechseln die SIM-Karten ihrer Handys; wir nähern uns Jordanien. Die anderen Touristen stehen plötzlich auf und steuern den Ausgang an. Besser, ich gehe mit ihnen. Die Verabschiedung von Aysha ist herzlich, wie zwischen alten Freunden. Dies war mehr als nur eine flüchtige Begegnung. Die Wege zweier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, haben sich gekreuzt. Zwei Welten. Kein Problem.

Umgekehrt

San Francisco Museum of Modern Art
Die meisten bekommen einen verklärten Blick, wenn man ankündigt, nach San Francisco zu fliegen. San Francisco, das steht für Cable Cars, Golden Gate Bridge, Flower Power, Scott McKenzie, Greatful Dead, Bay Area, für ein Lebensgefühl, für eine Stadt, die vibriert, eine Stadt, die jeder mag. Ich nicht. Oder wenigstens nicht so besonders. Für mich ist San Francisco eine Stadt, die mich mit ihren Gegensätzen überfordert. Die Stadt, in der mir der amerikanische Traum begegnet, mit seinen harten Konsequenzen. Ich schaue mir all die schönen Dinge an, die man als Tourist eben ansieht, wenn man zum ersten Mal dort ist: Die Werft, den Golden Gate Park, Chinatown, das Asian Art Museum, the Mission, das San Francisco Moma mit seiner kleinen, feinen Kollektion. Ich laufe durch die Straßen, sauge die Atmosphäre ein. Ich schließe mich einem geführten Spaziergang an und lerne etwas über die Anfänge der Stadt und über wichtige Persönlichkeiten. Auch über das, was Amerikaner als mitteilenswert erachten. Aber etwas stimmt nicht. Ich kann es fühlen. Es sind die Gegensätze, auf die ich überall stoße, auf engstem Raum. Nur fünf Minuten vom Visitor Centre am Union Square entfernt sehe ich Obdachlose, die in Müllcontainern nach Essen suchen. Mitten im Zentrum gibt es Straßen, um die man im Dunkeln besser einen Bogen macht, No go Areas. Ich sehe grell geschminkte Greisinnen ohne Zähne, spindeldürr und mit erloschenem Blick. Auch Amüsantes zwischendurch: Zwei mollige schwarze Mädchen mit Ghettoblaster und ein junger Mann tänzeln grinsend den Gehsteig entlang. Der Junge sagt: ‘Excuse us, we are black‘. Etwas stimmt nicht. Ich gehe in die Yerba Buena Gardens. Es ist Sonntag, es gibt ein Konzert. Ich sehe einen jungen Mann im Rollstuhl, geschoben von zwei Kumpels. Der Junge im Rollstuhl hat einen schönen, athletischen Rücken. Er sitzt gerade und benutzt dann seinen rechten Arm, um die Haltung noch weiter zu korrigieren. Ich schaue genauer hin und merke plötzlich, dass er nur diesen einen Arm hat. Beide Beine fehlen, sie sind unterhalb der Leisten amputiert. Es gibt keinen linken Arm. Vielleicht spürt der Junge meinen Blick. Er zieht sich die Kapuze über die Haare und sagt etwas zu seinen Freunden. Sie schieben ihn wieder Richtung Ausgang. Vielleicht einer, der auszog, um die Probleme im Irak zu lösen und als Krüppel zurückkam.

Chetumal, Mexiko. Eine Grenzstadt. Am nächsten Tag werde ich mit dem Bus nach Belize fahren. Ich bleibe hier hängen, weil es schon Nachmittag ist und ich heute nicht mehr über die Grenze will. Der Ort wird mich überraschen.
Mein Taxifahrer ist stolz auf seine Stadt. Er fährt mich durch aufgeräumte, breite Straßen mit guten Geschäften, zeigt mir das Kulturinstitut, dem man einen großzügigen, modernen Neubau spendiert hat, sagt, dass das Mayamuseum unbedingt einen Besuch wert sei. Er bringt mich zum Maria Dolores, dem Hotel meiner Wahl. Es erwartet mich ein sauberes, freundliches, professionell geführtes und obendrein billiges Hotel. Ich folge der Empfehlung meines Taxifahrers und besuche das Mayamuseum. Ich erfahre über die Mayas, was ich noch nicht wusste, lasse mich auf ihre Lebenswelt ein. Architektur, Ökonomie, Kunst, Mathematik, Astronomie, Vorstellung von der Weltordnung. Nach dem Museum eine Gemüse- und Salatplatte in einem einfachen Restaurant. Nach Tagen wieder etwas Vernünftiges zu essen. Da sage einer, alle Grenzorte sind öde.

Verschollen

Weiße und Schwarze Wüste
Endlich da. Einfach ist es nicht, hierher zu kommen, nach Bahariya. Fremden ist es in Ägypten nicht immer vergönnt, den kürzesten Weg von A nach B zu nehmen. Die Besucherströme werden in bestimmte Bahnen gelenkt, der Sicherheit wegen. Und die allgegenwärtige Touristenpolizei passt auf, dass sich auch jeder daran hält. Nach einem erzwungenen Umweg, der mich eine zusätzliche Nachtfahrt kostet, komme ich schließlich an mein Ziel. Ich quartiere mich in Bahdis Wüstencamp ein. Kreuz und quer stehende, weiß getünchte Häuschen, ein kleiner, freundlicher Garten, drum herum eine hohe Mauer. Nett ist es hier. Auch Bahdi, der Besitzer, ist nett. Er ist nicht mehr jung, aber so genau kann man das nicht sagen. Die Wüste macht alt. Er trägt ein langes, weites Gewand und hat ein Tuch um den Kopf gebunden. Aber da ist noch etwas anderes, etwas, das ihn unterscheidet. Vielleicht sind es die Augen. Es sind Augen, die verwandeln. Wenn diese Augen jemanden ansehen, wird dieser zum besseren Menschen. Auch mich hat Bahdi verwandelt, und dazu hat er nur ein paar Stunden gebraucht.

Egoistisch, wie Touristen nun einmal sind, will ich am zweiten Tag endlich Nägel mit Köpfen machen und für den nächsten Tag Fahrer, Auto und ein paar andere Touristen finden, für eine gemeinsame Tour in die Weiße Wüste. Dafür bin ich schließlich hergekommen. Und wenn Bahdi das nicht auf die Reihe kriegt, dann organisiere ich mir eben selbst eine Tour.
Normalerweise sagt man hier, wo man hingeht. Ich kündige also an, dass ich einen Morgenspaziergang zum Englischen Haus machen werde, einer Steinruine aus dem Zweiten Weltkrieg. Das tue ich auch. Aber dann will ich Bahdis Fürsorge entwischen und schlage einen Haken. Ich gehe in den Ort, auf der Suche nach Anschluss. Den finde ich schließlich. Mit ein paar anderen Touristen fahre ich zu einem anderen, viel größeren Camp. Nach einem ausgiebigen Plausch mit dem dortigen Besitzer, der ein Faible für Deutsche hat - er hat spezielle Erinnerungen an eine Frau, die er vor 15 Jahren kannte - kommt die Tour für den nächsten Tag zustande. Aber was macht man mit dem Rest des Tages? Eine kleine Fahrt durch die Oase und um sie herum, zusammen mit meinen neuen Freunden. Bestens gelaunt sehen wir uns den Palmenhain und die heißen Quellen an. Bei einem Spaziergang auf den Dünen passiert dann etwas Unerwartetes. Die Luft steht still, die Sonne ist plötzlich weg und wir laufen im Zwielicht. Der Horizont wird gelbgrün und giftig. Ein Sandsturm ist im Anzug. In weniger als zehn Minuten hat er uns erreicht. Wir finden es klasse, uns gegen den Wind zu stemmen und die Dünen von einem zum anderen Moment wie durch Spinnweben zu sehen. Unser Fahrer wartet in der Nähe. Wir sind in jedem Moment sicher; uns kann nichts passieren. - Aber Bahdi weiß das nicht. Er macht sich Sorgen. Im Geiste sieht er mich wohl orientierungslos durch den Sandsturm irren. Er setzt sich in seinen Toyota und sucht mich. Uta, ein Dauergast in seinem Camp, begleitet ihn. Als ich um 17.30 Uhr wieder zurückkomme, erwarten mich ernste Gesichter.

Sie geben ihm per Handy Bescheid, dass ich wieder da bin. Er ist immer noch unterwegs, auf der Suche nach mir, schon seit eineinhalb Stunden. Eine viertel Stunde später klopft es. Uta. Ja, ich sehe es ein und es tut mir leid, dass ich Aufregung verursacht habe. Ich bin hier nicht in der Großstadt, hier gelten andere Regeln. Wenig später klopft es noch mal. Bahdi. Diese Augen. Kein Vorwurf. Er ist einfach nur froh, mich gesund und unbeschadet zu sehen. Was für ein Mann.

Mittwoch, 23. Januar 2008

Rollen und Kabel

Der Traveller von heute reist nicht mehr mit Rucksack. Die Hostels, in denen der Traveller absteigt, heißen zwar oft noch 'Backpacker Hostel', aber eigentlich ist das überholt. Der moderne Traveller ist auf der Höhe der Zeit, er reist mit Trolley und elektronischem Equipment: Laptop mit Webcam, natürlich ist eine digitale Kamera im Gepäck und ein MP3-Player, nebst notwendigen Verbindungskabeln und Akkus. Vielleicht auch ein USB-Stick, für alle Fälle. Und ein Handy. Aber mit dem Handy telefoniert man heute nicht mehr, jedenfalls nicht vom Ausland. Viel zu teuer. Das macht man mit Internettelefonie, meistens mit Skype. Mit dem Laptop ins Internet zu kommen ist kein Problem, jedenfalls in der ersten und in der zweiten Welt. Wireless LAN gibt es überall, auch in den Backpacker Hostels, die auf sich halten. Na ja, manche haben nur PCs mit Internetzugang. Die sind noch ein bisschen hinter der Zeit zurück.
Miguel vor seinem MacMiguel z. B. reist so. Er ist ein Jahr lang unterwegs und fährt entlang der Panamericana, von Alaska bis Feuerland. Wenn er nicht reist, lebt Miguel in Madrid. Dort arbeitet er für eine Zeitschrift. Viel und intensiv, normalerweise. Nun reist er. Aber nur reisen, das füllt Miguel nicht aus. Deshalb dokumentiert er seine Reise in einem Blog. Wenn er das Haus verlässt – pardon, das Hostel – hat er meistens die Kamera griffbereit. Man kann ja nie wissen. Er könnte ja auf ein Blog-geeignetes Motiv stoßen. Kommt er an einen neuen Ort, bucht er meist gleich eine der Touren, die im Hostel angeboten werden. Schließlich haben Traveller von heute nicht alle Zeit der Welt, um sich alles Interessante selbst zu erschließen. Erwünschter Nebeneffekt: Er lernt Gleichgesinnte kennen. Das, was Miguel im Laufe des Tages sieht, hört oder fotografiert, verarbeitet er in seinem Blog. Das macht er spät abends, wenn andere schon ermattet in ihren Betten liegen. Da die Texte gut sein sollen recherchiert er, strukturiert, feilt. Auch die Fotos müssen erst bearbeitet werden, bevor er sie hochlädt. Das alles macht Mühe und kostet Zeit. Aber Ersteres scheut Miguel nicht und das Zweite hat er. Wenn er nachts nicht arbeitet, schreibt Miguel Mails, chattet mit Freunden oder telefoniert. Oder er checkt die Abbuchungen seiner Debit Card, sucht Busverbindungen und bucht das nächste Hostel. Manchmal geht er auch mit Leuten etwas trinken, die er auf einer seiner Touren kennen gelernt hat. Weil das alles zeitintensiv ist, schläft Miguel wenig. Aber das stört ihn nicht. Auf die Frage, warum er den Blog schreibt, antwortet er: Weil es mir Spaß macht. Warum er chattet, Mails schreibt oder endlos telefoniert, braucht er nicht zu erklären. Das läuft heute eben so. Die Zeiten, in denen Briefe oft wochenlang postlagernd in einem General Post Office am Ende der Welt auf einen warteten, sind endgültig vorbei. Außerdem: Wo liegt heutzutage eigentlich das Ende der Welt?

Sonntag, 20. Januar 2008

Rachel

Rachel treffe ich in Chefchaouen, Marokko.Rachel einige Monate später in Spanien Hellblonde Haare unter einem Tuch versteckt, helle, ungebräunte Haut, Jeans und ein für die kühlen Februartemperaturen viel zu leichtes Kapuzentricot. Aber Rachel ist Engländerin und deshalb macht ihr die Kälte nichts aus. Marokko bedeutet für Rachel Sommer und Sonne und im Sommer sind Fleecejacken eben unangemessen. Es ist ihre erste Reise außerhalb Europas. Alles ist neu und vieles ist aufregend. Sie lächelt viel. Sie erzählt mir von ihren autodidaktischen Versuchen, Spanisch zu lernen – na ja, das eigentliche Motiv ist ein junger Spanier, der ihr gut gefällt – ich ihr von meinen eigenen Bemühungen, die allerdings bisher lediglich den berüchtigten Waschmaschineneffekt in meinem Kopf hervorgerufen haben. Rachel lebt in London, hat einen Job bei einer Sicherheitsfirma und arbeitet 60 Stunden pro Woche. Lange hatte sie keine richtige Mittagspause und ernährte sich deshalb von 'hot sandwiches'. Weil die Mieten in London teuer sind hat sie nur ein kleines Zimmer bei irgendwelchen Leuten und nimmt jeden Tag zweieinhalb Stunden Fahrzeit in Kauf. Fünf Stunden Schlaf pro Nacht müssen genügen. Das scheint sie ganz normal zu finden; so leben sie und ihre Freunde eben. Ich werde Rachel auf meiner Reise durch Marokko noch ein paar Mal treffen. In Fez wird sie sich mit einer verdorbenen Suppe die Verdauung ruinieren und sich wochenlang nicht richtig davon erholen. Ihren Traum, die Sanddünen der Sahara in Merzouga zu sehen, gibt sie auf. Zu anstrengend für jemanden, der angeschlagen ist. Ihr Vater schickt Geld, so dass sie früher nach Hause fliegen kann. Sie selbst hat zu wenig.
Rachel, das kann es nicht gewesen sein! Dieses Land ist nicht nur Februarregen, enge Souks, übereifrige Souvenirverkäufer und problematisches Essen. Komme zurück – vorbereitet und mit viel Zeit. Gib diesem Land noch eine 2. Chance!

Mittwoch, 16. Januar 2008

Niemals ohne meinen Reiseführer

Doch, man lernt im Laufe der Zeit dazu, auch wenn es einem manchmal nicht so vorkommt. Man wird souveräner. Wenn ich z. B. an meine ersten großen Reisen denke, dann sehe ich den Unterschied. Anfang der 1980er-Jahre reiste ich das erste Mal nach Südostasien: Thailand, Sumatra, Java, Bali, Malaysia, Burma. Die Reiseführer von Stefan Loose waren damals das Nonplusultra für Leute wie mich. Beinahe jeder deutschsprachige Rucksacktourist hatte sie im Gepäck, und oft genug traf man Leute, die quasi ständig einen in der Hand mit sich herumtrugen. Ich glaube, ich gehörte auch zu ihnen. Ich fuhr nirgendwo hin, wenn Stefan Loose nicht vorher über den Ort geschrieben hatte. Hotels kamen sowieso nur dann in Frage, wenn Loose sie empfahl. Und wie sauer war ich – und die anderen – wenn Details nicht stimmten: eine Entfernung, der Zimmerpreis etc. Auch wenn etwa eine von Loose erwähnte ganz spezielle Kneipe in Chiang Mai so speziell nicht mehr war, weil mittlerweile alle Loose-Touristen dort hingingen, konnte mir das den Abend verderben.

Reiseführer im Regal

Heute, einige zig Reisen später, reise ich anders. Zwar bin ich immer noch mit dem Rucksack unterwegs und ich habe immer noch Reiseführer im Gepäck. Nicht mehr die von Loose; heute ist der Geschmack auch in punkto Reiseliteratur international. Aber ich kann zur Not auch ohne. Nehmen wir etwa Nicaragua. 'Linda Nicaragua', das schöne Nicaragua. Es war ursprünglich nicht auf meiner mentalen Liste der Länder, die ich in Mittelamerika besuchen wollte. Die Lust, dieses Land kennen zu lernen, kam erst im Laufe der Reise, sie entstand durch die Erzählungen anderer, die ich unterwegs traf. Ich fuhr spontan dort hin. Habe ich den Entschluss, ein Land, einen Ort, eine Gegend zu besuchen, erst einmal gefasst, hilft es, alle um mich herum wissen zu lassen, wohin ich als nächstes fahren will. Da die Welt voller hilfsbereiter Menschen ist, werde ich dann meist in den richtigen Bus, respektive Zug, respektive Boot etc. gesetzt oder aber ich bekomme zumindest Infos, die mich den Weg selbst finden lassen. Und wenn die Information nicht stimmt, was spielt das schon für eine Rolle? Dann verpasse ich eben den Bus, fahre einen Umweg oder steige falsch aus. Na und? Dann warte ich ein bisschen, beobachte das Dorfleben oder das Gewusel auf dem Busbahnhof. Manchmal komme ich dabei mit anderen, die ebenfalls warten, ins Gespräch. Vielleicht geschieht dabei etwas Neues, Unerwartetes. Und wenn nicht? Wenn es dort, wo ich hängen bleibe, einfach nur öde, stressig, heiß, staubig, kalt oder dreckig ist? Dann sagt die Erfahrung: Jede Situation, und sei sie auch noch so unangenehm, geht einmal vorbei. Und Situationen, die man nicht ändern kann, muss man eben aussitzen. Ich bin gelassener geworden im Laufe der Zeit. Allerdings ist diese Gelassenheit nicht alleine einem Zuwachs an geistiger Reife geschuldet. Nein, natürlich mache ich mir, wo ich auch bin, die modernen Kommunikationsmedien zunutze. Internetcafés gibt es mittlerweile an jeder Ecke, sogar in der marokkanischen Wüste und im nicaraguanischen Dschungel. Und Google sei Dank muss ich nie lange nach der benötigten Information suchen. Geldangelegenheiten regeln, Flüge buchen, Hotels suchen, Touren reservieren, mit den Lieben daheim telefonieren oder mailen – alles lässt sich online regeln. Auch das macht gelassen, es macht souverän.
Ich reise nach wie vor gerne. Es gibt nur einen wesentlichen Unterschied für mich: Heute ist alles einfacher als früher.

Freitag, 11. Januar 2008

Schnell mal was essen

Kathedrale von Leon, Nicaragua
Gegrillte Banane, Gemüseteile, in Teig getunkt und mit Gefühl frittiert, Salat, eine Cola. Das ist mein Abendessen. Eine der Frauen am Stand reicht mir den Teller und die Colaflasche. Ich setze mich an einen der beiden Tische. Um mich herum sind Pfützen, es ist Regenzeit. Vor mir die schwärzliche Rückwand der Kathedrale. Ein paar Minuten später setzt sich Seth an meinen Tisch. Sein Teller sieht ähnlich aus wie meiner, aber er hat sich für Hühnchen entschieden. Wir beginnen eine Unterhaltung, es wäre unhöflich, nicht zu sprechen. Ein paar Eckdaten werden ausgetauscht: Woher, wohin, wie lange, warum. Er spricht das langsame, wohl geformte Englisch der Nordwestküste der USA. Ein Projekt seiner Universität hat ihn hierher geführt, nach Leon, Nicaragua. Wir sprechen über das Essen, das Wetter, über Umweltthemen. Früher, als Berufstaucher im Golf von Mexiko arbeitete er an Ölplattformen und nahm Wasserproben. Nun ist er dafür zu alt, aber das Interesse an Ökologie und Technik ist geblieben. Er hat eine These: Man kann den Menschen in Drittweltländern nur schwer vermitteln, dass Gewohnheiten, die sehr lange Zeit nützlich und sinnvoll waren, heute zu Problemen führen. Was sich früher zersetzte oder von den Tieren gefressen wurde, nachdem die Menschen es wegwarfen, hängt heute als Müll in den Stauden der Gewässer oder sickert giftig in das Erdreich ein. Wenn man also das Bewusstsein der Menschen nur schwer ändern kann, so meint er, dann sollte man den umgekehrten Weg gehen und die Materialien verbessern. Billige, biologisch abbaubare Stoffe sollten diejenigen ersetzen, die der Umwelt solche Probleme bereiten. Dann könnten die Menschen die Verpackungen ihrer Waren weiter gefahrlos fallen lassen, aus dem Fenster werfen oder verbrennen. Ein interessanter Gedanke. Ich ging schnell mal was essen. Und traf auf jemanden, der ein Ideal hat - und es lebt.

WiMa

Dienstag, 8. Januar 2008

Warum Busfahren schön ist

Auf dem Weg von Belize nach Honduras Kennen sie das? Sie sitzen in einem Bus, schon seit Stunden. Die Rückenlehne ist nach hinten geklappt, in der Lehne vor ihnen klemmt die Wasserflasche. Draußen zieht die Landschaft vorbei: tropisch grün oder braun und karstig oder zugebaut oder einfach nur uninteressant. Vielleicht lärmt ein griseliger Videofilm über die Monitore oder es tönt einheimische Popmusik aus den Lautsprechern. Der Körper hat sich adaptiert und wird mit der zu heißen Temperatur, der zu weit heruntergekühlten Luft, der zu hohen oder zu geringen Luftfeuchtigkeit fertig. Sie dösen, schauen, träumen, hören ihre eigene Musik, hängen ihren Gedanken nach. Alle paar Stunden macht der Busfahrer eine Pause und sie können ihre Beine strecken, etwas essen, trinken, zur Toilette gehen. Dann geht es weiter, wieder stundenlang. Nein, das ist nicht langweilig. Das sind Stunden, die man ganz für sich hat. In diesen Stunden ist man keine öffentliche Person. Keiner spricht, man braucht nicht antworten, man muss sich nicht kümmern, nichts erfragen, braucht auf nichts aufpassen, nichts organisieren. Diese Stunden sind pure Meditation. Nun werden die Eindrücke verarbeitet, die sich in den Tagen vorher eingeprägt haben. Es ist die Zeit, in der man in sich hineinfühlt und sich fragt, wie man denn den Ort eigentlich fand, den man gerade besucht hat, oder ein Gespräch rekapituliert, das sich zufällig ergab. Wenn es einem gerade gut geht, durchflutet einen vielleicht eine kleine Welle des Glücks, dass man das alles erleben darf, während die anderen zu Hause ihrem drögen Broterwerb nachgehen. Vielleicht fängt man auch an, sich selbst anders zu betrachten. Man ist ganz bei sich und dennoch wächst die Distanz zu sich selbst. Man fühlt sich leicht, man wirft Seelenballast ab. Irgendwann kommt der Bus an. Dann hat einen die Realität wieder. Wo ist mein Hotel? Was kostet ein Taxi? Wo ist der nächste Geldautomat? Macht nichts. Die nächste Busfahrt kommt bestimmt.